III. EIN MIT RISIKEN BEHAFTETER STRATEGISCHER KOMPASS
Ein Scheitern des Strategischen Kompasses wäre, insbesondere für die GSVP bedauerlich. Im Bereich der europäischen Sicherheit und Verteidigung zeigt die Erfahrung, dass Desillusionen die Gemüter prägen jegliche Chancen für Fortschritt auf Jahre hinweg vereiteln.
Unter der vorangegangenen US-Präsidentschaft war der Strategische Kompass ein Leuchtfeuer der Hoffnung . Aber die neue internationale Situation ist nicht sehr vielversprechend: die Rückkehr der USA in das multilaterale Spiel, die erneute Bekräftigung des Schutzes der NATO, die Budgetrestriktionen, die Gefahr des Ausfalls des deutsch-französischen Motors... Es gibt zahlreiche Gründe dafür, dass der Strategische Kompass - wenn man das so sagen darf - vom richtigen Weg abkommen könnte, um sich, wie wir gesehen haben, stärker nach Westen zu orientieren.
Auch wenn die Europäische Union entschlossen schien, auf der internationalen Bühne eine wirkliche politische Kohärenz zu erreichen, ist dieses Vorhaben weniger als Chance sondern als vielmehr als Risiko dahingehend zu betrachten, das eine gewisse strategische Aushöhlung der EU neben - oder eher im Gefolge - einer wiederbelebten NATO gefördert wird.
Dieses Risiko ergibt sich aus verschiedenen Hürden, die der Strategischen Kompass überwinden muss. Der Kompass läuft in Gefahr, die Form:
- eines ethischen Dokuments anzunehmen infolge Folge des Verlustes des größten gemeinsamen Nenners zwischen einigen Ländern, darunter Frankreich, mit immer noch starken Ambitionen und einer Gruppe von Ländern, die den USA gefallen wollen, die in der Frage der europäischen strategischen Autonomie sehr zurückhaltend sind,
- eines substantielleren Dokuments anzunehmen, das aber die Strategie einer allmächtigen NATO wiedergibt und konsequent im Einklang mit deren strategischen Konzept steht,
- eines Dokuments anzunehmen, das offensichtlich stärkere Ambitionen für die GSVP hat, aber mit Vorbehalten und derart allgemein formuliert, dass es wirkungslos bleiben könnte,
- eines zu detaillierten Dokuments anzunehmen , das sich in Krisenzeiten als restriktives Korsett erweisen könnte.
Zu diesen, angesichts der Tatsache, dass der Kompass mehrere Kapitel beinhalten wird, kumulierbaren Hürden, kommt noch eine fünfte hinzu: die eines während seiner Ratspräsidentschaft zu interventionistischen Frankreichs“ , das seine Partner derart gegen sich aufbringt und somit die Chancen auf ein Dokument, das der EU Fortschritte in den Bereichen Sicherheit und Verteidigung ermöglichen würde, noch weiter sinken würden.
A. DAS RISIKO EINES WENIG AMBITIONIERTEN DOKUMENTS
Die Analyse der Bedrohungen, ist in diesem Stadium eine einfache Zusammenstellung ohne Priorisierung. Wenn es an der Zeit ist, den Strategischen Kompass zu verabschieden, müssen die Ziele und Mittel, die auf den Tisch gelegt werden, nach Prioritäten geordnet und diese Bedrohungen im Vorfeld abgewogen werden. Diese Arbeit verspricht schwierig zu werden. Schon jetzt weisen Polen und Litauer zum Beispiel bei Sitzungen des Militärausschuss der EU (EUMC) 91 ( * ) darauf hin, dass die Analyse der Bedrohungen nicht verabschiedet wurde.
Da die neue internationale Lage die Ambitionen der meisten Mitgliedstaaten im Hinblick auf die GSVP reduziert hat, könnte sich die Analyse der Bedrohungen, die von allen Mitgliedstaaten geteilt wird, durchaus auf die neueren Formen beschränken , wie beispielsweise hybride und technologische Bedrohungen, zu denen der größte Konsens besteht. Ausgehend von der Überlegung, dass wir unsere Fähigkeiten in umkämpften Räumen stärken und unsere Handlungsweisen an hybride Bedrohungen anpassen müssen, könnte der Schwerpunkt Resilienz“ zuungunsten des Krisenmanagements“ befördert und bei den Fähigkeiten lediglich auf die industrielle und technologische Dimension gesetzt werden.
Sollte der Kompass jedoch keine wirklichen Fortschritte für die GSVP erkennen lassen, wären fast zwei Jahre verloren gegangen. Zahlreiche Fähigkeiten und operative Instrumente sind bereits vorhanden, und es könnten unverzüglich erhebliche Fortschritte erzielt werden, wenn man einige von ihnen weiter ausbaut - das Potenzial des EVF ist mit 42 PESCO-Projekten nach wie vor beträchtlich - und wenn man die Funktionsweise anderer verbessert, indem auf bereits durchgeführte Feststellungen zurückgegriffen wird. Es wäre ein klarer Fehlschlag, wenn der Kompass zum Beispiel einfach die Empfehlungen des CARD vom November 2020 wiederholen würde.
Weiterhin könnte dieser Mangel an Ehrgeiz leider fortbestehen, da er durch ein langfristiges Dokument, das als stark verbindlich für alle Mitgliedstaaten dargestellt wird, in gewisser Weise formalisiert wäre. Dieses Risiko betrifft vor allem die GSVP in ihrer militärischen Dimension, die langfristig für den Erhalt der europäischen Handlungsfähigkeit am entscheidendsten ist.
Ein damit verbundenes Risiko besteht darin, dass der Strategische Kompass teilweise den Schein wahrt, indem er verpflichtende Maßnahmen zur Verbesserung der zivilen Missionen und auch der nicht exekutiven militärischen Operationen enthält, was dem deutschen Vorschlag entsprechen würde.
* 91 Oberstes militärisches Gremium innerhalb des Rates. Er besteht aus den Generalstabschefs der 27 Mitgliedsländer; sein Vorsitzender ist der italienische General Graziano, der den HR/VP im EAD berät.